Jedes Jahr im November wird er mit großer Spannung erwartet: Der Guide Michelin. Wie die Männer und Frauen aussehen, die die Hotels und Restaurants besuchen und bewerten, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Den Chef des Guide Michelin, Ralf Flinkenflügel, trafen die Kollegen vom Tagesspiegel. Ein Bild können auch sie nicht vorlegen und dennoch ist ihnen ein hervorragendes Portrait gelungen.

Auszüge aus „Der Unsichtbare, der Köche zu Stars macht“ von Erwin Koch

Guide Michelin Fine DiningMeine Henkersmahlzeit? Er greift zum blauen Stift, darauf das berühmte Männchen von Michelin, Reifenhersteller in aller Welt, klopft damit aufs Tuch, schiebt die Stirn zu Falten und sagt: Was für eine Frage!

Dann legt er den Stift zur Seite und reibt sich die feinen Hände, bleiche schlanke Finger, zwar hoffe er, sagt der Mann, er müsse sich dafür nie entscheiden, Henkersmahlzeit!, doch sollte es, knurrt er, je dazu kommen, käme ihm Passendes auf die Schnelle wohl kaum in den Sinn.

Wenn Sie nur noch eine Stunde zu leben hätten und essen dürften, wonach es Sie gelüstet, das Liebste vom Liebsten, was stünde auf Ihrem Tisch?

Er lächelt sanft und schweigt.

Flinkenflügel, Esser aus Profession, drückt die Schulter hoch und greift zum Stift, klopft ihn wieder auf weißes Leinen im Hinterzimmer eines Restaurants, Name der Redaktion bekannt, es regnet.

Kein Foto gibt es

Seit sechs Jahren gebietet Herr Flinkenflügel, von dem es kein öffentliches Bild gibt, auf dass ihn, wenn er irgendwo zur Probe tafelt, kein Kellner, kein Wirt, kein Koch erkenne.

Seit sechs Jahren gebietet er über elf Inspektoren und eine Inspektorin, er schickt sie aus, den Zustand der deutschen Gastronomie zu erkunden, um die geneigte Welt, alljährlich im November, mit ihrem Ergebnis zu beladen, einem dicken roten Buch, dem berühmten roten „Guide Michelin“.

Sie machen Köche zu Göttern!

Ach was! Wir reflektieren nur eine Situation, wir machen sie nicht. Meine Funktion ist die eines Chefredakteurs, nicht weniger, nicht mehr, sagt Herr Flinkenflügel, schmales Gesicht, schütteres Haar.

Ein halbes Jahr unterwegs

Während 26 Wochen im Jahr sind Flinkenflügels Späher unterwegs, meistens allein, fahren durchs Land, ausgestattet mit einem Tourenplan des Chefs, suchen vormittags zwei, drei Hotels heim, weisen ihren Ausweis vor und lassen sich das Haus zeigen, schreiben nieder, was sie finden, reisen weiter und setzen sich mittags an einen Tisch, den sie unter falschem Namen reservierten, bestellen, essen, bezahlen. Die Empfehlung im Michelin-Führer ist absolut kostenlos.

Satt setzen sie sich wieder in ihren Wagen, inspizieren nachmittags zwei, drei Hotels, lassen sich die Zimmer zeigen, die Küche, den Freizeitbereich, parken abends in der Umgebung eines Restaurants, doch selten vor dem Haus, denn KA steht für Karlsruhe, Heimstatt des Jüngsten Gerichts, Michelinstraße 4.

Kulinarische Bildung

Was aßen Sie als Kind am liebsten?

Meine Mutter nannte es Wurzelgemüsedurcheinander, gekochte Kartoffeln und Karotten, leicht zerstampft.

Nichts dazu?

Ungeräucherte Mettwürstchen.

Essen Sie alles?

Ich meide Kutteln, Hirn, Hoden.

Die ersten Sterne

Guide Michelin Fine Dining BlüteAb 1926 versah die Redaktion (des Guide Michline) Küchen, die sie für besser befand als andere, mit einem Stern, 1931 verfeinerte sie das System mit zwei weiteren Sternen.

Ein Stern, und dies gilt bis heute, sagt Ralf Flinkenflügel, den hellen blauen Stift zwischen den Händen, ein Stern meint: sehr gutes Restaurant in seiner Kategorie. Zwei Sterne bedeuten: hervorragende Küche, verdient einen Umweg. Und drei Sterne meinen: eine der besten Küchen, eine Reise wert.

Emotional gerührt

Herr Flinkenflügel, haben Sie in Ihrem Leben – Sie sind nun 50, der Älteste Ihrer Truppe – einmal etwas so Gutes gegessen, dass Sie weinen mussten?

Wieder wiegt er den Kopf, sucht nach Worten.

So richtig geweint, nein. Obwohl mir Kollegen bestätigen, dass ihnen dies schon widerfahren sei. Ich war emotional berührt, ergriffen, ja.

Er vergleiche, mit Verlaub, seine Kunst, wenn er sie Journalisten erkläre, mit der Malerei oder mit der Musik. Picasso und van Gogh, zum Beispiel, seien sehr verschieden im Stil und zählten beide doch, von niemandem mit Zweifeln besprengt, zu den Größten ihres Fachs. Weshalb? Weil sie einen berührten.

Nicht das Haar in der Suppe

Oder in der Musik, da gibt es Geigenspieler, die spielen genau und perfekt. Und doch sind da noch ein paar andere, die spielen ebenso genau und perfekt, haben darüber hinaus aber die Gabe, einen zu ergreifen, zutiefst zu berühren, ja, sagt Ralf Flinkenflügel, weißes steifes Hemd, Einstecktuch.

Kann man das verstehen?, fragt er leise.

Wir suchen ja, wenn wir in einem Restaurant essen, nicht das Haar in der Suppe, uns interessiert nicht dieses einsame Härchen, das überall irgendwann in eine Suppe rutschen kann, sondern wir werten das große Bild, das ganze Werk.

Verstehen Sie?

Gänselebermasse mit Gelee

Er nippt vom Wasser, wühlt in seinen Akten.

Was, Ralf Flinkenflügel, lag auf dem Teller, das Sie den Tränen nahe brachte?

Ach, sagt er und blickt zum Fenster.

Da falle ihm einiges ein, haucht Flinkenflügel, helles Glück im glatten Gesicht, bei Dieter Müller, damals zwei Sterne, Schloss Lerbach in Bergisch Gladbach, da habe er einmal eine unheimlich gute Chartreuse von der Gänseleber gegessen, Sie wissen, was ich meine?

Eine Gänselebermasse, mit Gelee überzogen, rundherum dekoriert mit kleinen feinen Stiften von Kohlrabi und Karotten, 23 Jahre ist das her.

Mythos und Wahrheit Michelin

Guide Michelin Fine Dining BaiserOder einst im Petit Nice, Marseille, damals zwei Sterne, heute drei, Rotbarbe mit Pistazienkruste in einem klaren Fischfonds, das vergisst man nie.

Rannten Sie schon, weil so übel war, was auf dem Teller lag, aus einem Lokal?

Fluchtartig!

Wo?

Mein kleines Geheimnis.

Da war nicht nur ein Haar in der Suppe?

Da war nichts anderes drin, lacht Flinkenflügel, Chefspäher, immer im Bild, welcher seiner zwölf Inspektoren aktuell wo testet, um sie dann zehn Jahre lang nicht mehr in die gleiche Region zu schicken, Wiedererkennungsgefahr, wer bei Michelin testet, hat kein öffentliches Gesicht.

Immer diese Gerüchte

Formvollendete Oberkellner, gestärkte Tischdecken oder poliertes Silberbesteck fließen nicht in die Sterne-Vergabe ein. Auch Hummer oder Kaviar sind keine Voraussetzung, und die Weinkarte braucht kein enzyklopädisches Format.

Plötzlich in Fahrt legt er die Brille auf, leicht schief, und liest laut: Gerücht 6: In Sterne-Restaurants geht es steif und formell zu. Über die Sterne-Gastronomie geistern die seltsamsten Gerüchte durch die Medien: von Oberkellnern, die den korrekten Umgang mit Messer und Gabel überwachen, von Chefs, die das Probieren vom Teller des Tischnachbarn bestrafen, und und und.

Ach.

Davon kann keine Rede sein, liest Flinkenflügel, Spitzengastronomie hat mit Genuss zu tun, und seine Gäste zu maßregeln, ist hochgradig genussfeindlich. Die Gäste sollen sich wohlfühlen und kein Hochamt voller Einschüchterungsrituale über sich ergehen lassen.

Auch ein Gasthaus kann einen Stern kriegen

Jede Art von Gasthaus kann mit Michelin-Sternen ausgezeichnet werden, sofern die Qualität der Küche stimmt. Ob klassisches Restaurant mit viel Tradition oder cooles Bistro. Essen im Sterne-Restaurant ist alles andere als eine verkrampfte Angelegenheit.

Tragödie der Sterne

Ihre Sterne kann ein Koch auch verlieren?

Das ist klar.

Was dann zur Tragödie wird?

November für November, alle Jahre wieder, sagt Herr Flinkenflügel, rufe er zwei Tage vor der Veröffentlichung des neuen Guide Michelin alle an, die einen zusätzlichen Stern gewinnen, und alle die, die einen verlieren, traurige Gespräche seien das manchmal, kein Austausch seliger Fröhlichkeit.

Wurden Sie deswegen schon beschimpft?

Er schüttelt den Kopf, sucht den Stift.

Einladung nach Karlsruhe

Jeder Koch, den wir in unserem Führer empfehlen, ist eingeladen, zu uns nach Karlsruhe zu kommen, dann zeige ich ihm unsere Berichte, setze ihm unser Urteil auseinander. Und es kommen viele. Und gehen dankbar wieder.

Herr Flinkenflügel!

Ja?

Ihre Henkersmahlzeit?

Ralf Flinkenflügel, Michelin Reifenwerke AG & Co KGaA, Michelinstraße 4, Karlsruhe, kratzt sich am Hals, legt eine Hand auf die andere, schaut in die Wand und lächelt. Was für eine Frage! Schweigt und schnaubt und macht die Augen weit.

Tranchen von roh mariniertem Hummer mit Eisenkraut-Öl, Melone, grünen Mandeln und Krustentiereis. Wachsweich pochiertes Bio-Ei auf Rahmpolenta mit Pfifferlingen, Vogelmiere und Räuchertofu. Rücken und Bries vom Eifler Urlamm mit Zitronen-Thymian-Jus, Coco-Blanc-Bohnencreme und Schafskäsecroûtons.

Ganz schön viel auf dem Teller

Guide Michelin - Tuna Tartare and Bonito CroquantAußerdem confierte Artischocke mit eingelegter Zitrone, Karotten-Tempura, Frankfurter Kräuterspinat. Tafelspitz vom Müritz-Lamm, Poveraden, Saubohnen, schwarzer Knoblauch, Rücken und Backe vom Simmentaler Rind, geräucherte Markkrokette, Gemüsezwiebeln in Texturen. Eine Variation von Coppeneur-Bio-Grand-Cru-Schokoladen mit Cru-de-Cacao-Eis und Sauerkirschsud.

Danach Neuruppiner Hirschrücken, in Kakao gebraten mit Blunz’n-Ravioli und Calvadosäpfeln.

Ein Zander-Hecht-Soufflé mit Zuckerschotenstroh und getrüffelter Beurre blanc.

Dazu ein Zweierlei vom Schwein mit dreierlei Bundmöhren.

Zu guter Letzt vielleicht doch das Wurzelgemüsedurcheinander meiner Mutter, geadelt mit ungeräucherten Mettwürstchen.

Und bis ich das alles gegessen habe, hat mein Henker längst Feierabend.

 

Den vollständigen Artikel zum Nachlesen gibt es beim Tagesspiegel online